Der Platz neben mir

Der Platz neben mir

Vorwort

Ich möchte bei dieser Geschichte ein kleines Vorwort anstatt ein Nachwort setzen.
Diese Geschichte hab ich damals, vor mittlerweile fast acht Jahren für den Deutschunterricht geschrieben. Die Aufgabe war einen Aufsatz über ein frei erfundenes Thema zu gestalten. Die Idee war schnell gefunden. Meine  ausgedruckten Seiten wurden, weil man Einiges erwartete, vorgelesen. Das Schönste war damals, dass die gesamte Klasse applaudiert hat. Damit hätte ich nicht gerechnet, es fühlte sich gut an.
Diese Geschichte ist somit die Erste von mir, die nicht nur ich für wirklich gut befunden habe. Damals vielleicht etwas überheblich, denn es gab nicht wirklich viel von mir, um nicht zu sagen gar nichts.
Heute, acht Jahre danach gibt es eine Reihe von guten und schlechten Texten, aber in Gedanken blieb ich immer bei dieser hier stehen. Nachdem sie ca. fünf Jahre verschollen war, kehrte sie dank einer guten alten Freundin neulich zu mir zurück. Knappe zwei Seiten, zerknittert, ohne Absätze und irgendwie doch teilweise schlecht formuliert, entblößte sie mir die Wahrheit. Heute habe ich den Angriff gewagt und sie nach besten Wissen und Gewissen verbessert, ergänzt und dem ganzen einen neuen Anstrich gegeben.

12.05.2010

Der Platz neben mir

Es klingelt an der Haustür.
Eine einsame Nacht, ein Donnerstagabend, lauwarme Sommerluft hat sich breit gemacht, der Magen ist flau und die Grillsaison ist seit Wochen nicht mehr zu bremsen. Die Alpträume der letzten Jahre hingegen sitzen tief in den Knochen. Verringern das Denken, aber das kennen wir ja schon.
Die Tür wird aufgemacht. Endlich, nach qualvollen Sekunden.
Dann nur Schweigen, kein einziges Wort. Nur eine Geste mit dem Kopf die signalisiert, komm rein! Setz dich, ich hole das Bier.

Blicke werden ausgetauscht, keiner weiß was er sagen soll. Keiner der beiden Männer möchte etwas sagen, sie warten einfach. Warten darauf, dass die Situation es zulässt. Sie sitzen sich gegenüber, so wie früher als sie jung waren, als sie das Leben noch nicht kannten und sich die Zukunft ausgemalt hatten wie es ihnen passte. Als das Lachen und das Weinen dazu gehörte, als Emotionen noch eine Rolle spielten. All das scheint schon lange her, ist es auch, wenn man genau darüber nachdenkt. Dann soll das Schweigen doch gebrochen werden, denn es muss raus, was zu lange verschlossen blieb.

„Zehn verdammte Jahre!“, sagt er betont in den Raum. Sein Blick durchzieht das Zimmer, bis seine Augen an einem alten Bild hängen bleiben und es fixieren.
„Du hast es immer noch dort hängen?“, seine Frage klingt ernst und direkt, „das Bild. Warum?“
Sein alter Freund muss nach einer passenden und richtigen Antwort suchen.
„Nun ja,“, fängt er leise und mit zittriger Stimme an, „nach dem Tod deiner Frau hielt ich es für das Richtige, dass es aufgehängt werden soll. Es zeigt uns alle in einer schöneren Zeit, in einer besseren Welt. Es ist das Letzte das gemacht worden ist, das Letzte auf dem wir alle zusammen sind.“
Das Bild zeigt neun junge Leute, lachend und fröhlich, enge Freunde auf einem dünnen Draht des Lebens.
Er starrt es an, hat es lange nicht gesehen, hat die Menschen darauf, seine alten Freunde, sehr lange nicht gesehen. Eine Person, direkt an seiner Seite sticht besonders heraus, es scheint, als ob sie ihm in die Augen schauen würde.

„Sie war nicht meine Frau, jedenfalls noch nicht.“ Er nimmt, den Blick weiterhin auf das Bild gerichtet, einen Schluck Bier. Seine Augen füllen sich mit Tränen, seine gesamte Mimik versinkt in ihm und etwas Düsteres und Trauriges überschattet das von einigen Narben gekennzeichnete gealterte Gesicht. Dieser Blick verrät, dass er seit langer Zeit kein Lachen mehr preisgegeben hat.
Er flüstert in Richtung Bild. „Nichts ist für immer da…und schon gar nicht für die Ewigkeit.“ Die beiden Männer versinken im Schweigen und im Biertrinken. Die Gläser werden geleert, nicht wie früher, denn da sprach man noch über Gott und die Liebe. Sie werden nur leer gemacht.

Sein alter Freund weiß nicht was er darauf sagen soll. Er freut sich, dass sie beide wieder vereint an diesem Tisch sitzen, aber er hat Fragen, viele Fragen. Er nimmt noch einen tiefen Schluck, lässt das Bier die Kehle hinunter rinnen und unterbricht so die Ruhe.
„Wieso bist du damals nicht zu uns gekommen? Warum warst du von jetzt auf gleich einfach vom Erdboden verschwunden. Jeder von uns wäre für dich da gewesen.“ Er schaut ihn anklagend an, denn sie machten sich damals Sorgen und hatten Angst ihn zu verlieren. Viel schlimmer, sie dachten er könnte sich etwas antun.
Er sieht diesen Blick, versteht ihn genau, kennt ihn von früher, weicht aber nicht aus, hält stand.
„Ich konnte nicht mehr.“, antwortet er, „ich musste einfach aus allem raus. Ich stand vor einer riesigen Leere, nichts war mehr von Bedeutung, alles war sinnlos geworden, von jetzt auf gleich. Mein ganzen verschissenes Leben war mir egal.“ Sein Atem wird schneller, er fühlt sich von seinen Emotionen gefangen, die ihn schon mehrfach drohten umzubringen, wenn er keinen Ausweg finden sollte. Damals fand er einen und blieb am Leben, irgendwie zumindest.

Sein alter Freund bemerkt die Anspannung seines Freundes und versucht behutsamer zu fragen, versucht das nötige Verständnis aufzubringen.
„Wir haben dich nur noch ein einziges Mal gesehen. Auf der Beerdigung.“, sagt er leise in den Raum. „Wir haben erst nachdem du die Karte geschickt hast herausgefunden, dass es dir gut geht und du sofort einen Flug gebucht hattest. Aber warum bist du nicht wieder gekommen?“
Er denkt kurz darüber nach, ruft sich die Ereignisse in den Verstand.
„Bitte verstehe mich. Ich habe alles was ich hatte zusammengekratzt, habe die Scherben zusammen gekehrt und wollte mich niederlassen, irgendwo auf einem ruhigen Stück Land und darauf warten, dass es zu Ende geht. Aber das geschah nicht. Stattdessen lebte ich weiter und die Tage wurden zu Jahren. Ich konnte nicht zurück, weil ich wusste, dass es mich zurück geworfen hätte, es wäre eine Vollbremsung gewesen. Ich musste den richtigen Zeitpunkt abwarten.“
Sein alter Freund spricht in einem ernsten Ton. „Aber dir hätte klar sein müssen, dass das so keine perfekte Lösung ist. Wir machten uns alle, jeder deiner Freunde, sehr große Sorgen. Es war auch für uns nicht leicht. Wir haben zwei geliebte Menschen verloren.“

Eine kleine Pause kehrt ein. Beide nehmen ihr Bier zur Hand. Viele gute Worte sind gefallen und es werden sicher noch mehr folgen.
„Ja du hast recht“, sagt er traurig, „es tut mir wirklich Leid, denkst du darüber habe ich damals nachgedacht? Mir war nie bewusst gewesen, dass ich irgendwann einmal mein Leben wieder in den Griff bekommen könnte. Bitte versteh mich!“ Seine Augen suchen nach ehrlichem Verständnis. Sein alter Freund bringt das Nötige auf.
„Ich verstehe dich. Natürlich war es hart.“

Nach einigen Sekunden des Schweigens, des immer wiederkehrenden Nachdenkens.
„Du hast damals alles gesehen, oder? Du warst direkt hinter uns?“, er fragt leise, seine Stimme ist rau und die Augen glitzern vor lauter Tränen.
Sein alter Freund muss erst überlegen, weiß nicht sofort was er von ihm wissen möchte. Dann leuchtet es in ihm auf und das was nicht vergessen werden kann, wird ausgesprochen.
„Ja, du hattest sie im Arm. Wir sind aus diesem Restaurant heraus, sind vielleicht erst hundert Meter weit gekommen. Ich weiß noch wie wir Witze über alles und jeden gemacht haben. Ich kam mit offenem Hosenschlitz von der Toilette wieder, das war natürlich der Brüller für den ganzen Abend. Dann erinnere ich mich nur noch an dieses verdammte Geschrei.“ Die Augen seines alten Freundes füllten sich nun auch mit Tränen, sie hatten damals oft darüber geredet, vermutet es hätte jeden treffen können, aber irgendwann wurde diese Nacht nicht mehr erwähnt. Das Erlebte wurde versucht zu verdrängen.

Außer mit sich selbst und den Wellen am Strand hatte er noch nie mit jemanden darüber gesprochen. Aber er hielt es für notwendig.
„Ja genau,“, er spricht langsam, „daran erinnere ich mich auch noch. Kurz nach dem Geschrei kam dieser Verrückte aus der Kneipe gestolpert. Angetrunken kam er auf uns zu gerannt.“
Ihm liefen die ersten Tränen über die Wangen. Der Schmerz war gelöst und frei, er hatte ihn über Jahre hinweg unterdrückt und erdrückt, damit er erstickt.
„Irgendwer aus der Kneipe schrie noch, dass der Penner ein Messer hat. Aber da war es zu spät.“
Er nahm einen kleinen Schluck Bier, sein Magen rebellierte und wollte nichts haben. Es war geschlossen.
Sein alter Freund sagt mitfühlend. „Du musst nicht weiter erzählen, wenn du nicht willst.“
Er ignoriert diesen Satz, er antwortet darauf nicht mal. Denn er wollte nicht weiter schweigen.

„Ich sah nur noch wie einige von euch zur Seite gestoßen worden sind, wie der Kerl durch unsere Mitte wollte, aber sie nicht schnell genug zur Seite sprang. Dann hörte ich sie schreien und wie sich ihr Griff löste, sie zu Boden sackte. Ich werde ihre Schreie nie vergessen. Sie war Blut überströmt und ein was-weiß-ich für’n Messer steckte in ihrer Brust. Für einen keinen Moment dachte ich, dass es mich auch erwischt hatte, dass auch ich verletzt sei, weil überall so viel Blut war, ihr gesamter Körper war voll davon. Meine Hände waren dunkelrot.“
Zorn und Wut machen sich auf seinem Gesicht breit. Diese unglaubliche Geschwindigkeit, mit der damals die Dinge abgelaufen sind, wird er nie vergessen. Sein alter Freund hatte nur brennenden Hass und unendliche Trauer in den Augen. Ein sehr wirres Gemisch.

Sein alter Freund sagt. „Er hatte ihre Hauptschlagader durchtrennt.“
Er nickt stumm, nimmt einen Bierschluck und möchte weiter reden.
„Ich kniete mich neben sie, nahm sie in den Arm. Gott, sie atmete noch sie versuchte mit mir zu reden, mir irgendwas mitzuteilen. Ihre Augen waren ganz glasig, aber sie schaute direkt in meine.“
Wieder eine Pause. „Als ich euch beide so am Boden sah, dachte ich auch nur noch, dass alles vorbei ist. Wir schrien nach einem Krankenwagen, dass doch um Himmelswillen ein Krankenwagen gerufen werden soll.“ Sein alter Freund verstummt.

„Das alles habe ich gar nicht mehr wahrgenommen, die ganze Welt um mich, um uns herum verschwamm. Mir war bewusst geworden, dass sie in meinem Arm sterben wird. Sie brach ein paar Wortfetzen heraus, sagte wie schön meine Augen sind und das wir morgen ausschlafen können. Dann verstummte sie.
Sie war in meinem Arm verblutet, ich wusste, dass sie tot war, ich wusste, dass ich ihr nicht mehr helfen konnte. Die Person die ich über alles geliebt habe, lag dort auf dem harten Kopfsteinpflaster in ihrem Blut. Ich hielt sie feste in meinen Armen, versuchte auf sie einzureden, ich streichelte sie, aber mir war klar, dass auch der Notarzt sie nicht mehr wiederholen könnte. Jegliches Leben war aus ihrem Körper verschwunden. Ich wusste nicht was geschah, ich wusste nicht warum mich dieses Schwert durchbohrte, was konnte grausamer sein? Der Schmerz war grenzenlos, die Wut und der Hass überstiegen alles. Ich schwebte in einer Leere ähnlich dem Tod. Wir teilten alles miteinander, Liebe und Schmerz, es war perfekt.
Ich wollte damals auch sterben, wollte nicht einsam sein. Nicht ohne sie sein. Ich war kurz davor alles zu beenden, Schluss mit dem hier und jetzt zu machen und sie wieder zu sehen, aber ich beschloss, dass der Himmel warten kann. Ich habe all meine Fristen verlängert, werd‘ ohne Liebe leben müssen, aber möchte dennoch nicht so schnell abtreten. Ich sah sie jede Nacht in meinen Träumen wieder und in der Stille meiner Ewigkeit schwor ich, dass ich sie eines Tages in meine Arme schließen werde. Damals war es ein Strudel von Besessenheit, heute ist es Emotionslos. Der Schmerz ist vergangen, “, er leerte sein Bier, ein Schlucken durchzuckt seinen Hals, „doch geblieben ist die Leere und der Platz neben mir.“

Die Nacht verrinnt. Wie jede andere, denn es ist wie jede andere in den letzten Jahren. Die Sonne geht auf, das Bier ist ausgetrunken und es wird weiter gehen, denn so war es schon immer.
Das Schweigen wurde gebrochen.

Julian Alexander Post
Original vom 20.12.2002
Überarbeitet am 12.05.2010

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